Die Neurowissenschaftlerin Elisabeth Huis in 't Veld sah, wie Blutspender in Ohnmacht fielen und entdeckte, dass dies nicht mit Blutverlust, sondern mit der Angst vor Nadeln zu tun hat. Jetzt arbeitet sie an einer Game-App, die Menschen hilft, ihre Spritzenangst zu kontrollieren.
Die Corona-Krise legte ihre Forschungen für mehr als ein Jahr lahm, hatte aber auch einen positiven Effekt. Plötzlich gab es viel Aufmerksamkeit für das Problem, das die Neurowissenschaftlerin Elisabeth Huis in 't Veld von der Universität Tilburg mit der Game-App AINAR lösen will: Spritzenangst, bzw. die Angst vor Nadeln. Nach Schätzungen leiden etwa 30 % aller Menschen mehr oder weniger stark darunter. Eine beträchtliche Anzahl davon hat so große Angst, dass diese Personen jede Situation vermeiden, in der eine Spritze verwendet wird. Das bedeutet, dass sie sich nicht gegen Corona impfen lassen, obwohl sie das vielleicht gerne wollten. Aber auch, dass sie zum Beispiel nicht zum Arzt gehen, weil sie Angst haben, dass Blut abgenommen werden muss. Dies kann schwerwiegende Folgen haben. Woran man dabei vielleicht nicht gleich denkt: Frauen mit Fruchtbarkeitsproblemen, die sich wegen der Hormonspritzen gegen eine IVF-Behandlung entscheiden. Oder Menschen, die Blut spenden möchten, aber Angst vor Nadeln haben und es deshalb nicht tun, oder die während des Spendens so schlechte Erfahrungen machen, dass sie nicht mehr wiederkommen.
Elisabeth Huis in’ t Veld hat es erlebt, als sie 2018 als neue Mitarbeiterin der Abteilung für Spenderstudien der Blutbank Sanquin für einige Tage in einem Blutentnahmezentrum mithilft. Menschen, die in Ohnmacht fallen, sobald die Nadel in den Arm einsticht. „Beim ersten Mal hat mich das sehr erschreckt“, sagt sie. „Aber es hat auch gleich mein Interesse geweckt. Denn in der einen Minute sagen die Leute noch, es gehe ihnen gut, und in der nächsten fallen sie in Ohnmacht oder erbrechen sich. Wie ist es möglich, dass man das nicht kommen sieht?“
Sanquin ist kein naheliegender Arbeitsplatz für eine Neurowissenschaftlerin, aber genau das führte zu der Idee für eine Spiele-App gegen Spritzenangst, sagt Huis in 't Veld. „Bisher hatten sich nur Ärzte hiermit beschäftigt und die haben ganz andere Vorstellungen.“ Unter Ärzten herrscht die Meinung, dass man nach der Spende in Ohnmacht fällt, weil man einen halben Liter Blut weniger hat. Das ist auch der Ausgangspunkt der meisten Maßnahmen. Obwohl es weit verbreitet ist, ist nur wenig über dieses Problem bekannt. Huis in 't Veld taucht in die neurowissenschaftliche Literatur ein und findet heraus, dass das Gehirn auf den bloßen Anblick von Nadeln sehr heftig reagieren kann. Sie kombiniert die spärlichen Informationen mit dem Wissen, das sie während ihrer Promotionsforschung über die Veränderungen, die Emotionen im Gesicht, im Körper und im Gehirn hervorrufen, gesammelt hat. Dies führt zu der Hypothese, dass es unbewusste Prozesse im Gehirn und im autonomen Nervensystem sind, die dazu führen, dass sich Menschen unwohl fühlen, wenn sie eine Spritze erhalten. Elisabeth Huis in 't Veld: „Da dies unbewusst geschieht, ist es schwierig, Menschen danach zu befragen. Wenn man dieses Problem angehen will, muss man also etwas entwickeln, mit dem man messen kann, ob jemand ängstlich ist und womöglich in Ohnmacht fällt, bevor er es selbst merkt. Denn dann ist es oft schon zu spät.“
Huis in 't Veld kam bald auf die Idee, eine Wärmebildkamera einzusetzen, um die Veränderungen im Gesicht zu untersuchen, die auftreten, wenn es einem Blutspender schlecht geht. Und auch, dass sie die so gewonnenen Daten nutzen will, um den Algorithmus für eine App zu entwickeln. „Wenn die Menschen sehen können, was in ihrem Körper passiert, können sie lernen, darauf Einfluss zu nehmen“, erklärt sie. Biofeedback ist die Bezeichnung für diese bekannte neurowissenschaftliche Technik. „Man probiert es einfach. Zum Beispiel, indem man seinen Kopf frei macht, auf seine Atmung achtet oder an etwas Schönes denkt. Wenn etwas davon wirkt, merkt man das sofort. So lernt man sehr schnell, was bei einem selbst funktioniert, denn das ist bei jedem anders.“ Außerdem packt man auf diese Weise das Problem bei seiner Ursache an. „Andere Interventionen, wie die weit verbreitete „Applied Muscle Tension“, bekämpfen die Symptome. Die Leute müssen dann ihre Muskeln anspannen, damit ihr Blutdruck nicht abfällt und sie nicht in Ohnmacht fallen. Aber auch das funktioniert nicht bei jedem.“
Sie formuliert ihre Forschungsfrage von dem Gesichtspunkt aus: Wenn ich tatsächlich eine App entwickeln will – wie muss ich dann vorgehen? Und wie komme ich dafür an Geld? Elisabeth Huis in 't Veld: „Ich habe zu dem Zeitpunkt auch meinen MBA gemacht und das hat mir sehr geholfen. Als Wissenschaftlerin ist man auf diesem Gebiet nicht so bewandert.“
Das Geld für die Forschung kommt in Form eines Veni-Stipendiums, das Teil des Talentprogramms der Niederländischen Organisation für wissenschaftliche Forschung (NWO) ist. Als Forschungsstandort entscheidet sich Elisabeth Huis in 't Veld für die „Tilburg School of Humanities and Digital Sciences“. „Die Kombination von Kognitionswissenschaft und Künstlicher Intelligenz, die man hier findet, ist einzigartig in den Niederlanden und ein wesentlicher Erfolgsfaktor von AINAR.“
In Tilburg nehmen die App und auch das Start-up AINAR (ausgeschrieben: AI for Needle Anxiety Reduction) Gestalt an. Es wird nach der Lean-Startup-Methode gearbeitet: Klein anfangen – in diesem Fall, zusammen mit Menschen, die Angst vor Nadeln haben, Zeichnungen anfertigen –, einen einfachen Prototyp bauen und diesen kontinuierlich auf der Grundlage von Nutzer-Feedback verbessern. Parallel dazu wird der Algorithmus entwickelt. Das erfordert Zeit, denn man braucht eine Menge Daten, die unter anderem an der Universität Tilburg und bei Sanquin gesammelt werden. Der nächste Schritt sind Tests in Krankenhäusern. Elisabeth Huis in 't Veld: „Was dieses Problem kompliziert macht, ist, dass Menschen mit Spritzenangst sehr unterschiedlich reagieren. Manche werden ganz still und blass, andere wieder sind aufgeregt, werden rot und beginnen zu schwitzen. Das bedeutet, dass wir ein breites Spektrum von Persönlichkeitsmerkmalen, Körpersignalen und Gehirnreaktionen berücksichtigen und den Algorithmus ständig an neue Erkenntnisse anpassen müssen.“ Es kommt hinzu, dass das Gesundheitswesen kein leichtes Arbeitsfeld ist. „Vieles verläuft träge, es gibt eine Menge Bürokratie. Wir arbeiten mit Videoaufnahmen. Da kommen Frage auf – und das leuchtet ein.“
„Zum Glück arbeite ich mit Leuten zusammen, die sehr gut können, was ich nicht kann“, sagt Huis in 't Veld und lacht. Wie die Doktorandin Judita Rudokaité, die „super-technisch“ ist und den Algorithmus schreibt. Dann Sharon Ong, deren Spezialität es ist, aus biomedizinischen Bildern die für den Algorithmus benötigten Daten und Muster zu extrahieren. Und die Mitbegründerin Cindy van Goor, die über jahrelange Erfahrung im Gesundheitswesen verfügt und genau weiß, wie man technologische Innovationen auf Projektbasis angeht. Sie unterhält die Kontakte mit den Krankenhäusern. Wichtig für AINAR ist auch das Engagement von IQONIC, das alle Aspekte des Unternehmertums innerhalb der Universität Tilburg unterstützt, und insbesondere die Hilfe des Unternehmensentwicklers Dirk van den Berg. „Wirklich schön, einen Sparringspartner zu haben, der aus Erfahrung weiß, wie man ein Start-up zum Erfolg führt.“
AINAR befindet sich noch mitten in der Entwicklung. Game-Entwickler nutzen das Feedback von Spielern, um das Spiel besser und unterhaltsamer zu gestalten. Und unter anderem im Elisabeth-TweeSteden-Krankenhaus (ETZ) in Tilburg wird die App demnächst mit Patienten getestet. Elisabeth Huis in 't Velds Forschung (durch die der Algorithmus ständig verbessert wird) setzt sich noch mindestens bis 2023 fort. Und danach? „Dann möchte ich eine App für Kinder entwickeln, denn bei Kindern ist das Problem noch größer. Und vielleicht können wir den Algorithmus auch noch für andere Probleme nutzen. Ich habe noch viele Ideen, wie ich als akademische Unternehmerin etwas bewirken kann.“
AINAR ist ein relativ simples Puzzlespiel, bei dem man Kästchen ausmalen muss, indem man auf den Bildschirm seines Smartphones tippt. In der Zwischenzeit analysiert die App das Gesicht mithilfe der Selfie-Kamera des Handys. Wenn der Algorithmus kleine Anzeichen von Angst oder Stress erkennt, färben sich die Puzzleteile rot. Wenn man ruhig ist, sind sie blau. Die Aufgabe: Versuchen, so viele rote Felder wie möglich blau zu machen.
Untersuchungen von Sanquin haben gezeigt, dass die Spritzenangst enorm zunimmt, wenn die Spender im Wartezimmer sitzen, und dass sie in dem Moment am größten ist, in dem die Nadel in den Arm einsticht. Das Wartezimmer ist daher der Ort, auf den es ankommt, sagt Elisabeth Huis in 't Veld. „Pflegekräfte bemühen sich sehr, die Betroffenen zu beruhigen, aber dann ist es eigentlich schon zu spät, die Angst wird zu groß. Die positive Interaktion mit den Pflegekräften muss ganz bestimmt bestehen bleiben. Wenn Patienten AINAR gespielt haben, sind sie dafür hoffentlich empfänglicher.“
AINAR selbst ausprobieren? Sie können das Game hier herunterladen.
Im Rahmen der Partnerschaft WeCare forschen die Universität Tilburg (TiU) und das Elisabeth-TweeSteden-Krankenhaus (ETZ) seit Jahren gemeinsam, unter anderem auf dem Gebiet von Data Science. Das AINAR-Team arbeitet mit der neurochirurgischen Abteilung des ETZ zusammen und erhielt außerdem ein WeCare-Stipendium von TiU/ETZ. Initiator ist der Anästhesiepfleger Peter van Dun, der sich sofort mit Elisabeth Huis in 't Veld in Verbindung setzte, als er hörte, dass eine App gegen Spritzenangst entwickelt wird. Mit seinen über vierzig Jahren Erfahrung als Krankenpfleger kennt er das Problem wie kein anderer. Was es für den Patienten bedeutet, aber auch was es für Pflegekräfte bedeutet.
Van Dun erzählt von einem Onkologie-Patienten, der seit Tagen in einem angespannten Zustand ist, weil ihm eine Spritze bevorsteht, und der in diesem Moment viel mehr Angst davor hat als vor den möglichen Folgen seiner Krankheit. Und von einem Patienten mit akuten Bauchschmerzen, der nach stundenlangen Gesprächen in der Notaufnahme seine Spritze schließlich in der Anästhesieabteilung unter Inhalationssedierung bekommt. Peter van Dun ist davon überzeugt, dass man Spritzenangst nur dann wirksam bekämpfen kann, wenn man auf die Bedürfnisse des einzelnen Patienten eingeht und innovative Techniken mit dem kombiniert, was man von erfahrenen Pflegekräften lernen kann. Wenn die Spiele-App im ETZ getestet wird, möchte er dafür sorgen, dass die Fachleute vor Ort die Möglichkeit haben, sich dabei einzubringen.
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